Aikido und Zen

Die beste Kampfkunst ist sinnlos, wenn im Kampf die Nerven versagen und wir, wie das Kaninchen vor der Schlange, erstarren und die erlernten Techniken nicht zur Anwendung bringen können. Stellen wir uns vor, wir würden auf einem Baumstamm der am Boden liegt balancieren, so wäre das eine leichte Übung. Wie würde es aber aussehen, wenn der selbe Baumstamm eine tiefe Schlucht überspannen würde? Würden wir mit derselben Leichtigkeit darüber spazieren?

Lieh Tzu hat es sinngemäß folgendermaßen ausgedrückt:

„Wenn du um Spielgeld spielst, dann bist du ein guter Spieler. Wenn du um deine Gürtelschnalle spielst, beginnst du zu zögern und wenn du um echtes Geld spielst, dann wirst du unsicher. Dein Können ist immer dasselbe, aber du wirst vorsichtig beim Spielen, weil du etwas Wert schätzt, das du nicht verlieren willst. Wann immer du äußeren Dingen einen Wert beimisst, wirst du auch innerlich unsicher“.

Man könnte sagen, dass das Training bzw. der sportliche Wettkampf, mit seinen klar festgelegten Regeln und seinem klaren Verhaltenscodex, dem Spiel um Spielgeld bzw. dem Spiel um die Gürtelschnalle entsprechen. In einem „echten Kampf“ ist der Spieleinsatz aber unsere Gesundheit oder sogar unser Leben. Auch wenn im Training weder unsere Gesundheit noch unser Leben in Gefahr sind, beansprucht Aikido trotzdem mehr zu lehren als nur das Spiel um Spielgeld. Und das obwohl Aikido weder aggressiv noch auf rasche Effizienz bzw. das schnelle Erlernen von Selbstverteidigungstechniken ausgerichtet ist. Durch die körperliche Auseinandersetzung mit einem „Partner-Gegner“ beschäftigen wir uns aber (in dem geschützten Rahmen des Trainings) dennoch mit dem Thema Gewalt und letztendlich auch mit der Angst vor dem Tod.

Die Kampfkünste des alten Bujutsu (Kunst des Krieges/Technik des Krieges) die das Töten lehrten, vermochten dieses Problem – die Angst vor dem Tod - nicht zu lösen. Das erkannten auch die alten Meister und integrierten deshalb die Philosophie des Zen in ihre Kampfkünste. Aus einem Kampf gegen einen Gegner wurde ein Kampf gegen das eigene Ego. Dadurch entstand aus einer tödlichen Kampfkunst eine Kunst des Lebens bzw. etwas philosophischer ausgedrückt eine Kunst der Lebensweise bzw. der Art zu leben. In der Konfrontation mit dem eigenen Ego und den eigenen Schwächen werden auch nicht-technische Aspekte der Kampfkunst wie Präsenz, Achtsamkeit, Selbstvertrauen, Glaubwürdigkeit, innere Ruhe, Entschlossenheit,…verinnerlicht. Wir lernen Angst zu überwinden und die eigene Persönlichkeit zu formen.

In der Transzendenz des eigenen Egos besteht auch heute noch der große Wert des Budo (Weg des Kriegers) für die Praktizierenden.

Die Integration des Gedankenguts des Zen in die Kampfkünste fand ungefähr im 17. Jahrhundert statt, also zu Beginn der Edo-Zeit. In dieser Zeit entstanden drei bedeutende schriftliche Werke, wobei das bekannteste sicherlich Miyamoto Musashis „Gorin no Sho“ (The book of the five rings) ist. Dieses Werk ist chronologisch das jüngste der drei, die hier Erwähnung finden sollen. Das älteste wurde von Takuan Soho, einem Zen-Buddhisten verfasst und heißt „Fudochi shinmyoroku“ (The unfettered mind). Von niemand geringerem als Yagyu Munenori, dem Schwertlehrer von zwei Tokugawa-Shogunen, stammt das dritte Werk (chronologisch das zweite): Heiho kadensho (The life-giving sword). Insbesondere Musashis Gorin no Sho ist auch heute noch eine Standardlektüre zur „strategischen Kriegsführung in der freien Marktwirtschaft für Manager“. Die Weisheiten aller drei Werke haben aber, in die heutige Zeit übertragen, immer noch ihre Gültigkeit.

Mit Zen verbinden wir oft Begriffe wie Meditation und einen leeren Geist (mushin). Es ist wahr, dass die Entscheidungen über unsere (Re)-Aktionen im Budo nicht bewusst getroffen werden dürfen, sie müssen sozusagen aus einem leeren Geist entspringen. Wenn wir darüber nachdenken würden, wie man einem bestimmten Angriff am Besten begegnen sollte, wären wir zu langsam, aber das Konzept mit dem leeren Geist sollten wir trotzdem hinterfragen. Was ist ein leerer Geist? Jon Kabat-Zinn drückt es so aus: ein Irrtum bezüglich der Meditation ist, dass wir glauben, wenn wir meditieren, soll unser Geist leer werden. Aber wir können unseren Geist nicht leer machen. Es geht nicht um einen leeren Geist, sondern um Achtsamkeit:

Achtsamkeit ist ein nicht-bewertendes Gewahrsein, das auf der bewussten Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt beruht.

Für einen Budoka bedeutet diese Aussage, dass wir einen Geisteszustand anstreben sollen, in dem sich unsere Gedanken weder verstricken noch irgendwo anhaften. Aus diesem „reinen, leeren Geist“ kann eine Technik (Kampfkunst) – oder allgemeiner ausgedrückt eine passende Antwort auf eine aktuelle Situation (Kunst des Lebens) - ganz spontan entstehen.

Ich möchte hier mit einer Zen-Geschichte abschließen, von der es viele Varianten gibt. In dieser Geschichte stellt Meister Tsukahara Bokuden einem Gast seine drei Söhne vor. Um zu zeigen, was seine Söhne kampftechnisch bereits gelernt haben, platziert er über der Tür einen Gegenstand, der, sobald die Tür geöffnet wird, herunterfällt. Dann ruft er seinen jüngsten Sohn. Als dieser in jugendlichem Elan die Tür öffnet und der Gegenstand auf ihn zu fallen droht, zieht er blitzschnell sein Schwert und zerschneidet ihn. Der Gast ist sehr beeindruckt vom Selbstbewusstsein und dem Können des jüngsten Sohnes. Die Sache wird mit dem mittleren Sohn wiederholt: Als dieser bei der drohenden Gefahr des herabfallenden Gegenstands auch schon dabei ist sein Schwert zu ziehen, erkennt er aber, dass es keine lebensbedrohliche Situation ist. Daher zieht er sein Schwert nicht sondern fängt den Gegenstand lediglich auf und stellt ihn ab. Der Gast ist sehr angetan von der schnellen und umsichtigen Reaktion des mittleren Sohnes. Die Szene wiederholt sich als der älteste Sohn gerufen wird. Dieser öffnet die Tür jedoch nur einen Spalt, nimmt den Gegenstand von der Tür, stellt ihn ab und betritt den Raum. Der Gast ist beeindruckt von der Ruhe und Gelassenheit und der Voraussicht des ältesten Sohnes: er hat die Meisterschaft erreicht – der „symbolische Kampf“ wurde verhindert, bevor er entstanden ist, Gewalt war nicht vonnöten.

In dieser Geschichte steckt aber auch eine Falle, vor allem für uns Aikidoka. Die meisten von uns werden sich mit dem ältesten Sohn identifizieren: friedliebend, nicht aggressiv, nicht zerstörerisch, umsichtig, ruhig, gelassen – so wollen wir sein bzw. so wollen wir werden. Die drei Söhne in dieser Geschichte stellen aber die unterschiedlichen Entwicklungsstufen dar, d. h. um so zu werden wie der älteste Sohn, müssen wir das, was der jüngste Sohn kann, auch beherrschen.